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8. November 2018

Taggenaue Kalkulation des Schmerzensgeldes – OLG Frankfurt a.M. Urteil vom 18.10.2018 – 22 U 97/16

Entgegen einer jahrzehntelangen Übung und den Vorgaben des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 6.7.1955 – GSZ 1/55 sowie BGH, Beschluss vom 16.9.2016 – VGS 1/16) geht das OLG Frankfurt am Main mit seinem Urteil vom 18.10.2018 erstmals neue Wege bei der Schmerzensgeldbemessung. Dabei orientiert sich das OLG nicht an den für die Bemessung üblichen sogenannten Bemessungskriterien wie Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen etc. . Vielmehr kalkuliert es das Schmerzensgeld mathematisch auf der Basis eines prozentual ausgedrückten Tagessatzes; für diesen übernimmt es das - vom statistischen Bundesamt jährlich ermittelte – durchschnittliche Bruttonationaleinkommen / Einwohner und multipliziert das so gewonnene Zwischenergebnis nochmals mit einem weiteren prozentualen Faktor, der aus dem Grad der Schädigungsfolgen abgeleitet wird. Als Begründung für diese – ursprünglich von Professor Hans-Peter Schwintowski (Handbuch Schmerzensgeld, 2012) – Methode verweist das OLG auf die Vorgehensweise der Justiz in anderen europäischen Ländern und auf eine größere Gerechtigkeit insofern, als durch diese Kalkulationsmethode bei langfristigen Beeinträchtigungen deutlich höhere Schmerzensgeldbeträge festgelegt würden, während bei geringfügigen Verletzungen mit kurzer Beeinträchtigungsdauer die Schmerzensgelder herabgesetzt werden könnten.

Das zuletzt genannte Motiv der Heraufsetzung der Schmerzensgeldbeträge bei schweren und schwersten Verletzungen sowie die Herabsetzung oder gar Zurückweisung in Fällen von nur geringfügigen Beeinträchtigungen oder gar Bagatellverletzungen ist vollumfänglich anzuerkennen, worauf ich selbst erneut (siehe Slizyk, Beck´sche Schmerzensgeldtabelle 2019 – Seite 124 Kapitel VII 3) hingewiesen hatte, denn „ohne Leben und körperliche Unversehrtheit sind alle anderen Rechte nichts wert!“ (so zutreffend LG Bochum BeckRS 2015, 18726). Wünschenswert – und insofern dem OLG Frankfurt a.M zustimmend – ist daher eine klare Umverteilung durch eine stärkere Zurückhaltung eines Schmerzensgeldzuspruchs bei leichtesten Verletzungen (wie leichte Prellungen, Blutergüsse, Hautabschürfungen, kleine Riss- und Platzwunden sowie leichteste HWS-Schleuderverletzungen ohne nennenswerte ärztliche Behandlung und mit nur kurzzeitiger, leichter Beeinträchtigung) zugunsten der wirklich schweren und schwersten Verletzungen , auf die in oben benannten Kapitel 3 „Schwerstverletzungen“ meines soeben in der 15. Auflage neu erschienen Fachbuches ausführlich eingegangen wird.

Gegen die rein mathematische Ermittlung des im jeweiligen Einzelfalle angemessenen Schmerzensgeldes sprechen jedoch zahlreiche Gründe:

  • Zum einen führt diese Methode – wie Schwintowski in seinem oben benannten Fachbuch selbst darlegt, zu zum Teil absurden Ergebnissen: Für einen 1967 geborenen, schwer verletzten Mann, der eine offene Unterschenkelfraktur 3.Grades mit Weichteildefekten sowie einer Fußwurzelknochenfraktur erlitten und deshalb insgesamt 11 Operationen und insgesamt 70 Tage auf einer „Normalstation“ sowie weitere 42 Tage in einer Reha-Klinik verbracht und einen Dauerschaden von 40% zurückbehalten hatte, errechnet sich nach der Formel Schwintowskis ein Schmerzensgeld von 1,2 Millionen EUR bzw. – formelgemäß auf den Cent genau – 1.223.730,14 EUR.
  • Zum anderen steht diese Art der Schmerzensgeldbemessung auch nicht im Einklang mit der Menschenwürde, die Schwintowski explizit als „Kontrolldiskussion“ anführt. „Genügen 93 EUR um 50% der Lebensqualität in gesunden Tagen zu kompensieren?“ fragt Schwintowski und weicht der Antwort – die schon im Grundsatz mit „nein!“ zu beantworten ist – aus. Dabei ist bereits die Fragestellung ethisch nicht vertretbar, denn sofern man einen festen Betrag als „angemessen“ definieren würde, so ließe sich der Mensch als Individuum sozusagen in seine - die Individualität  ausmachenden - Einzelteile zerlegen und wirtschaftlich bewertbar machen. Dies verbietet jedoch die Würde des Menschen ebenso, wie die von Schwintowski in diesem Zusammenhang vertretene These, wonach die zu zahlende Schmerzensgeldsumme „den Schädiger täglich daran erinnern soll, was er dem Verletzten … zugefügt hat“. 
  • Und schließlich führt diese Art und Weise der Schmerzensgeld“berechnung“ auch weder zu einer Erleichterung der Arbeit von Anwälten, Richtern oder Versicherungsjuristen (ein Anspruch, den Schwintowski jedoch ausdrücklich erhebt), da Schwintowski versucht, die Besonderheiten eines jeden Einzelfalles dann doch noch mit einer Vielzahl von Unterpunkten und Ergänzungen mit in sein Formelwerk zu implementieren. 

Abgesehen von diesen drei Aspekten, verkennen die - eine rein kalkulatorische Bemessung befürwortenden Argumentationen oder gar „Formeln“ - dass zur Bemessung des Schmerzensgeldes jeder Einzelfall in allen zu berücksichtigen individuellen Details analysiert werden muss und sich erst aus dem Zusammensetzen sämtlicher Einzelkriterien das Gesamtbild ergibt, welches zu einem wirklich angemessenen Schmerzensgeld führen kann. Daher ist auch der teilweise verbreitete – und auch bei Schwintowski wiederbelebte – Ansatz unrichtig, die Verkürzung der Lebenserwartung infolge der Verletzung müsse schmerzensgeldmindern angesetzt werden, denn die in solchen Fällen ggf. bestehenden außerordentlichen psychischen Beeinträchtigungen bleiben bei einer derartig einseitigen „Regel“ völlig unbeachtet. 

Näher zu diesem Thema finden Sie in

  • ·         Schwintowski/C.Schah Sedi/M.Schah Sedi, Handbuch Schmerzensgeld 1. Aufl. 2014
  • ·         Slizyk, Beck´sche Schmerzensgeldtabelle 2019 – Seite 124 Kapitel IV. 1 Rn. 30 sowie
  • ·         Slizyk, Judex non calkulat – oder doch? Die Bemessung des Schmerzensgeldes – taggenaue Kalkulation versus Einzelfallentscheidung, SVR 2014, 10

Andreas Slizyk

Rechtsanwalt

 

 

 

 

 

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